Um nachzuvollziehen, wie man eine Disziplin wie das User Centered Design (UCD) in einem Unternehmen etabliert und verankert, ist es wichtig zu verstehen, wie sich Organisationen verhalten und wie sie sich verändern und entwickeln. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich eine Disziplin in einer Organisation sehr ähnlich entwickelt, wie die Organisation selbst. Letztendlich beeinflussen sogar einzelne Disziplinen – wie das UCD –  die Entwicklung der Organisation massgeblich.

Die Reifegrade einer Organisation/Disziplin

Organisationen wachsen und entwickeln sich ähnlich wie Menschen nach der Geburt in einem Reifungsprozess. Mit Disziplinen – wie in unserem Fall UCD – verhält es sich im Bezug auf die Entwicklung und den Reifegrad ähnlich wie mit Organisationen. Jede Disziplin beginnt in den Köpfen Einzelner, die sich ein neues Fachgebiet eröffnen. Sie bauen Know How auf und erkunden das “neue Terrain”. Die Disziplin ist zu diesem Zeitpunkt stark an Personen gebunden. Sie sind Pioniere. In der Organisationsentwicklung (Modell von Glasl) nennt man diese Phase auch entsprechend Pionierphase. Das unternehmerische Verhalten kann man sehr gut mit dem eines Startups vergleichen. Man befindet sich im Aufbau, hat wenig Strukturen, ist explorativ unterwegs. Hiererachien und Strukturen gibt es nicht. In dieser Phase wird weniger geplant, sondern improvisiert. In ersten kleineren Vorhaben und Projekte kommt das neue Know How zur Anwendung.

Durch erste Erfolgsgeschichten wird das Bewusstsein für die Disziplin im Unternehmen geweckt. Das Management nimmt Kenntnis von der Disziplin und die Nachfrage nach ihr wächst. Es werden Budgets gesprochen. Das löst einen erste Wachstumsphase aus und bringt die Disziplin in die nächste Reifephase: der Differenzierungsphase. In dieser Phase entwickelt sich die Disziplin zu einem “rationalen Apparat”. Neue Experten kommen ins Unternehmen. Man ist bemüht Transparenz, Systematik, Logik und Steuerbarkeit zu schaffen. Erreicht wird dies durch die Einführung von Strukturen, Standards, Prozesse und Spezialisierung. Es gibt eine Trennung in verschiedene Rollen – in manchen Fällen sogar Abteilungen. Auf dem Gebiet des UCD kann es bedeuten, dass man unternehmensweite nutzerzentrierte Entwicklungsprozesse schafft, Rollen wie “UX Architect” und “Interaction Designer” definiert und abgrenzt.

Diese Phase birgt eine grosse Gefahr. Es wird mehr geregelt, organisiert und geplant als notwendig ist. Bürokratie nimmt zu und die Innovationskraft der Pionierphase kann darunter leiden. Eine gewisse Starrheit macht sich bemerkbar. Erfahrungsgemäss ist diese Phase die heikelste in der Entwicklung einer Disziplin oder dem Aufbau eines UX Teams.

Wenn dann die Projekte grösser werden, das Team wächst und die Disziplin vertieft ist, kommt die Integrationsphase. Man versucht die Kraft der
Pionierphase mit der Rationalität der Differenzierungsphase zu kombinieren, die Organisation wächst zu einem Organismus. Man kann heute sehr oft beobachten wie kleinere, agile Arbeitseinheiten gebildet werden und sich Prinzipien wie Selbstorganisation und Eigenverantwortung etablieren. Für die Disziplin UX kann das bedeuten, dass die Sensibilität für das Thema über die Teamgrenzen hinweg im Bewusstsein von Projektnahen Disziplinen aufgebaut ist- ja, sogar als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird. Dennoch konzentriert sich die Disziplin nach wie vor auf eine überschaubare Menge von Personen oder wenigen Abteilung.

Es gilt dann den nächsten Entwicklungsschritt zu machen. Meiner Meinung nach die Reifeprüfung schlechthin. Es geht in die Vernetzungsphase,  wie sie Dave Gray in seinem enorm empfehlenswerten Buch “the connected company” beschreibt. Man beginnt die Disziplin ins gesamte Unternehmen zu tragen. Man baut intensive Beziehungen mit anderen Organisationen oder Einheiten auf, entwickelt gemeinsame Strategien und transferiert das Know How. Die Disziplin wird damit zu einer Selbstverständlichkeit im gesamten Unternehmen. Für eine Disziplin wie das UCD oder UX bedeutet dies, dass nutzerzentriertes Denken und Handeln sowie einzelne Methodiken von jedem im Unternehmen praktiziert wird, dass sie Teil der Unternehmensstrategie sind und noch wichtiger: Teil der Unternehmenskultur!

 

Change Prozess

Eine solche Reife-Entwicklung wie ich sie beschrieben habe, entsteht und wächst nicht von selbst. Sie will aktiv gemanagt werden. Aktives Change Management ist gefragt. Eine Organisation und die betroffenen Menschen müssen sich verändern. Das kann mitunter schmerzhaft sein. Es ist ein Prozess, der Zeit und vor allem Energie braucht.

Um UCD in einem Unternehmen zu etablieren und zu verankern, wird man zuerst den Willen zur Veränderung und die Einsicht aufbauen müssen, dass man den aktuellen IST Zustand verlassen muss in Richtung einer nutzerzentrierten Organisation. Dafür muss das stabile Gleichgewicht zwischen Erhaltungskräften (“das läuft schon seit Jahren so und funktioniert auch”) und Veränderungskräften (“wie lange noch? Wir müssen stärker auf unsere Kunden eingehen!”) “aufgetaut” werden (3-Phasen Modell von Lewin).

Um diesen “Unfreeze” zu bewerkstelligen sind sowohl die “UCD-Pioniere” wie auch die Führungskräfte gefragt. Gemeinsam gilt es ein neues Zielbild zu erarbeiten. Wo möchte man hin? Welche Arbeitsweise möchte man praktizieren? Welche neuen Abläufe will man etablieren? Mit der Definition des Soll-Zustandes ist der Übertritt in die Veränderungsphase (moving) vollzogen. Die Veränderung- und Entwicklungsarbeit hat begonnen. Ist der Zielzustand erreicht und  die Veränderungen vollzogen, stabilisiert sich die Organisation wieder und wird auf der nächst höheren Reifestufe wieder “eingefroren”. Und dann beginnt das “Spiel” von vorne, um die nächste Reifestufe zu erreichen.

Eine solche Entwicklung erfordert den Einsatz auf allen Stufen. Auf der operativen Projektebene, wie auch im Management. Nur das Bewusstsein und das gemeinsame Erarbeiten einer Zielvision wird die nötigen Energien für den Reifungsprozess freigeben.