Lange ist es her, verdrängt und vergessen: mein Architekturstudium. Seit ich mich aber eingehender mit dem User Centered Design Prozess beschäftige, merke ich welche Spuren das Studium bei mir hinterlassen hat. Vor allem aber, welche Werkzeuge ich bewusst und auch unbewusst in meine “Methoden-Kiste” gepackt habe. Drei zentrale Prinzipien beeinflussen massgeblich meine heutige Arbeit und mein konzeptionelles Vorgehensmodell.

1. Die Frage des Massstabs

Der architektonische Entwurfsprozess ist meiner Meinung nach vorbildlich und seit Jahrhunderten wegweisend für eine iterative und konsequente Annäherung an eine ideale Lösung für eine bestehende Fragestellung. Ausgehend von einem übergeordneten (städtebaulichen) Massstab konkretisiert sich der architektonische Entwurf Schritt für Schritt in immer grösser werdenden Massstäben und damit auch im Detaillierungsgrad.

Die grosse, übergeordnete Strategie bestimmt das Detail.

Diesen Weg entlang der Massstäblichkeit geht der architektonische Entwurfsprozess konsequent und passt entsprechend die “Flughöhe” kontinuierlich an. Konzeptionelle Entscheidungen auf einem Massstab haben Konsequenzen auf den nächst grösseren Massstab. Im User Centered Design Prozess skizziert J.J. Garrett mit seinem 5 Schichten Modell ein ähnliches Vorgehen.

Leider erlebe ich in der Praxis immer wieder, dass Applikationen und Webseiten fälschlicherweise von der Benutzeroberfläche und deren Details ausgehend entworfen werden. Das heisst, das visuelle Design bestimmt das übergeordnete Konzept (oder lässt dieses ganz weg). Ich werde in einem Folge-Post näher auf diese Problematik eingehen.

 

2. Prototyping

Wer hat’s erfunden? Ja. Die Architekten und Städtebauer waren wohl die Ersten die gezielt Modelle und Prototypen einsetzten, um Ihre Ideen zu überprüfen und für ihre Auftraggeber eine Vision des geplanten Bauvorhabnes zu visualisieren, bevor ein Stein auf den anderen getürmt wurde. Im architektonischen Entwurfsprozess nimmt das Modell ein besonders wichtigen Platz ein. Es beginnt mit Modellen des städtebaulichen Kontexts, Variantenmodellen von Volumen und Erschliessungen und geht hin bis zu 1:1 Modellen von Fassadenauschnitten. Leider weichen die physischen Modelle – durch die immer stärker auch die Architekturdisziplin erfassende Digitalisierung – immer mehr am Computer erzeugte fotorealistischen Visualisierungen. Dennoch schwören viele Architekten – vor allem in frühen Entwurfsphasen – immer noch auf die klassischen Gips-, Holz- oder Kartonmodelle.

Im Studium habe ich zum ersten Mal das Prinzip “trial and learn” mitbekommen. Wir wurden vom ersten Tag an angehalten Ideen schnell in Modellen umzusetzen, Varianten zu probieren und damit Fragestellungen zu beantworten. Auch das Scribbeln gehört zum 1×1 des Architekturentwurfs.

skizze_arch

Skizze: Auinger Partner, Architektur + Ingenieurbau GmbH

 

3. Form follows Function

Die vom Amerikanischen Architekten Louis Sullivan geprägte (und fälschlicherweise oft Mies van der Rohe zugeschriebene) Aussage: “form follows function” war wohl nie zutreffender als in der digitalen Welt. Die Bedürfnisse des Nutzers – und damit verbunden die Funktion – bestimmen die Form. Der gesamte nutzerzentrierte Entwicklungsprozess basiert auf diesem Prinzip. Man könnte noch hingehen und das Prinzip erweitern:

form follows function follows needs

 

…und was Architekten von UX Experten lernen sollten

Andererseits muss ich heute klar attestieren: So wegweisend der architektonische Entwurfsprozess ist, so ignorant gehen Architekten mit den Nutzern und ihren Bedürfnissen um. Die wenigsten Architekten führen systematische Nutzerforschung durch bevor sie sich mit den Anforderungen an das Gebäude beschäftigen. Keiner befragt die künftigen Nutzer/Bewohner eines Gebäudes nach ihren Bedürfnissen. Keiner beobachtet sie in ihrem aktuellen Kontext, um daraus Schlüsse auf das neue Gebäude zu ziehen. Die Betrachtung des Nutzers als Zentrum des Entwurfsprozesses ist für die meisten Architekten “Terra incognita”. Vielmehr zählen verwegene Tragkonstruktionen, geniale Detaillösungen und der (subjektive) ästhetische Anspruch an die Raumgestaltung.

Der Aspekt der Nutzerforschung und die aktive Integration der Nutzer in den gesamten Entwurfsprozess würde die Disziplin Architektur ungemein bereichern und manch einer Stadt oder einem Gebäude eine menschlichere Note verleihen. Ich denke, dass User- und Customer Experience Experten den Architekten einen neuen Zugang eröffnen können. Eine spannende Zusammenarbeit wäre es allemal…

Interessant in diesem Zusammenhang ist der Artikel “What Starbucks Gets that Architects Don’t” von Christine Outram.

 

Fazit

Ich muss eingestehen, dass ich die Architektur und ihre systematische und konsequente Vorgehensweise heute mehr schätze denn je. Es ist mir erst jetzt wirklich bewusst geworden, was mich an der Disziplin schon immer fasziniert hat. Dennoch kritisiere ich, aus dem Blickwinkel der User Centricity, die Architektur als eine ziemlich veränderungsresistente Disziplin, die die modernen Ansätze des nutzerzentrierten Denkens mehrheitlich ignoriert. Manchmal reizt es mich an die ETH zurück zu kehren, um “User Centricity im architektonischen Entwurfsprozess” zu dozieren… 🙂