Eine Geschichte des Grauens möchte ich heute erzählen. Da sitze ich vor einiger Zeit bei einer Agentur zu einer ersten Konzeptpräsentation für den in Auftrag gegebenen Unternehmensblog und traue meinen Augen und Ohren nicht. Auf der Wand vor mir sind pixelgenaue Designs des Blogs gepinnt und eine Designerin erklärt die Gründe für die Wahl der Schrift- und Farbwelten. Wie gesagt: erste Konzeptpräsentation zum Projektstart. Soll ich schreien? Oder lieber heulen?

Ich versuche mein nahöstliches Temperament etwas zu zügeln und nicht gleich ein Streichholz an die Ausdrucke zu halten und frage einfach mal trocken in die Runde: Welche Ziele verfolgt der Blog? Wer wird diesen Blog nutzen? Die Frage nach Personas verkneife ich mir vorerst…

Langes Schweigen. Der Auftraggeber fängt dann an X verschiedene Hauptnutzergruppen aufzuzählen. Ziel: wir wollen sie informieren. Ok. Alles klar. Jetzt möchte ich wirklich heulen. Da ergreift der Projektleiter der Agentur das Wort und versucht die Situation mit der Aussage zu klären, dass man sich entschieden hat einen pragmatischen Weg zu gehen und direkt mit dem visuellen Design beginnt, also Design-Thinking halt. Aha…eine ganz neue Interpretation von Design-Thinking…

 

Eisberg

Ich habe es dann sein gelassen, weiter auf der Thematik rum zu reiten. Aber eine Woche später hatte ich Gelegenheit in einem anderen Kontext aufzuzeigen, wie meiner Meinung nach der ganzheitliche User Experience Design Prozess aussehen sollte und wie man Produkte konzipieren sollte. Ich wurde gebeten einen kurzen Review einer Online Plattform zu machen und die Top-5 “Usability Sünden” aufzuzeigen und entsprechende Lösungen zu skizzieren. Mir war klar, dass die Fragestellung anders gestellt werden muss. Eine schlechte Usability ist meist nicht das Problem, sondern nur die sichtbare und erlebte Auswirkung von viel tiefer liegenden Problemen.

Um das zu erklären, wende ich meist das bekannte Bild des Eisbergs. Der Aspekt Usability ist nur die Spitze des Eisbergs! Wenn man verstehen will was ganzheitliche User Experience ist, muss man tiefer anfangen. Der User Experience Design Prozess ist eine Folge von bewussten Entscheidungen entlang von 5 Ebenen (ähnlich dem Modell von J.J. Garrett), die sich in ihrem Konkretisierungsgrad und Inhalt unterscheiden.

eisberg_ebenen

 

Strategie

Der Prozess beginnt auf eine strategischen Ebene, wo es darum geht, einerseits den Nutzer und seine Bedürfnisse zu verstehen, andererseits die Business-und Produktziele zu schärfen. Daraus gilt es eine Stratgie für das Produkt zu entwickeln. Ohne Bunsiness- und UX-Zielen wird das Produkt garantiert kein Erfolg!

 

Umfang

Die Entscheidungen, die man auf der Strategieebene gefällt hat, müssen nun dazu führen den funktionalen und inhaltlichen Scope des Produktes zu definieren. Das Resultat dieser Phase ist die Festlegung eines MVP (Minimum Viable Product). Auch dieser Schritt verlangt bewusste Entscheidungen des Projektteams.

 

Struktur

Die Defintion des MVP und der damit verbunden Anforderungen muss dann in ein Grundlagen-Konzept transferiert werden, welches die Informationsarchitektur und die Interaktionprinzipien des Produktes festlegt. Dieses Konzept ist die erste Grundlage für das iterativ zu entwickelnde Produkt.

 

Oberfläche (Detailinteraktion & Visuelles Design)

Auf den beiden letzten Ebenen werden dann die Konzeptprinzipien in ein konkretes Design und die angewendeten Interaktionselemente übersetzt. Diese Ebenen sind diejenigen, die der Nutzer sensorisch wahrnimmt.

 

Kausalitätskette

Wie bereits erwähnt, ist der ganzheitliche User Experience Design Prozess als eine Verkettung von Entscheidungen auf unterschiedlichen Flughöhen oder Ebenen zu betrachten. Wenn man sich nun diese Ebenen anschaut, wird einem klar, dass falsche oder fehlende Entscheidungen auf den “tiefen” Ebenen zu Fehlern und Unstimmigkeiten auf den darauf aufbauenden Ebenen führen und damit zu einer schlechten Gesamt-Experience. Fehlentscheide auf den tieferen Ebenen sind im Gegensatz zu solchen auf den “höheren” Ebenen nachträglich nur mit sehr grossem Aufwand zu bereingen.

Deutlich wird nun auch, dass die Kausalitätskette eine Richtung hat: von unten nach oben! Das heisst: von den Entscheidungen mit grossem Impact und geringem Konkretisierungsgrad hin zu den detaillierten Designentscheidungen mit geringerem Impact auf die Gesamt-Experience.

Komischerweise erlebe ich in meinem Umfeld immer wieder, dass Vorhaben – wie anfangs geschildert – auf der Oberfläche mit einem visuellen Design beginnen. Die Strategieebene, d.h. das Verständnis der Nutzer und die Definition von Produkt- und Nutzerziele gar nicht betrachtet wird. Das ist meiner Meinung nach kompletter Unsinn und zeugt von oberflächlichem Verständnis des Themas User Experience! Letztendlich verkauft man – in meinen Augen – mit einem solchen Vorgehen den Nutzer für dumm. Man baut ihm ein schönes, aber letztendlich unbrauchbares Produkt und wird damit langfristig die Business-Ziele nicht erreichen.

 

Entscheidungen fällen und validieren

Um Fehler nicht von einer Ebene auf die nächste zu “vererben”- und damit sehr wahrscheinlich den nächsten Fehlentscheid auszulösen – ist eine wiederholte Validierung der Entscheidungen unabdingbar. In jeder Phase eines Vorhabens sollen Entscheidungen, Hypothesen, Konzepte und Prototypen hinterfragt und wann immer möglich mit dem Nutzer oder Stakeholder validiert werden. Nicht selten wird die Erkenntnis aus einer (Nutzer)Validierung das Projektteam dazu zwingen einen Schritt zurück auf die nächst tiefere Ebene zu machen. Damit wird eine neue Kausalitätskette aufgebaut, die dann hoffentlich zu einem bessern Ergebnis führen wird.

 

Die Realität

In der Realität wird oft mit fehlender Zeit und fehlendem Budget argumentiert, wenn der User Experience Design Prozess nicht in seiner ganzen Tiefe und Konsequenz gelebt und umgesetzt wird. Meiner Meinung nach ist aber meist fehlender Wille die wirkliche Ursache. Agenturen nehmen ihre Auftraggeber zuwenig in die Pflicht, was die “tiefen” Ebenen der Strategie angeht oder verfehlen ihre Aufgabe als “Trusted Advisor” mit dem Verweis, sie seien ja nur die Ausführenden.  Auf Unternehmensseite ist das Management oft nur auf Zahlen fokussiert und gibt zuwenig Raum, um Grundlagenarbeit zu betreiben. Der erwähnte Review hat mir gezeigt, dass es auch anders geht und ich bin sehr gespannt, wie stark ich in meiner neuen Aufgabe den Eisberg hoch und runter rutschen kann… 🙂